Wurst, 2008
40 x 40 cm, Eitempera/ Öl auf Leinwand
Tellermädchen, 2010
230 x 130 cm, Eitempera/ Öl auf Leinwand
Fliegendes Mädchen, 2008
180 x 130 cm, Eitempera/ Öl auf Leinwand
Anna Selbdritt
Anna spricht mit sich selbst. Sie spricht mit Marion, gelegentlich mit Simon. Mit mir spricht sie nicht. Sie ist Malerin, in der Wolle gefärbt. Man möge sich an ihre Bilder halten. Die sprechen für sich. Mit ihnen sei alles gesagt und getan. Oder doch schon ziemlich viel. Dort auf der Leinwand ist sie anzutreffen, leibhaftig und höchstpersönlich. Recht hat sie. Ein erster Blick genügt.
Ich folge ihr trotzdem bis an die Stufe des Strickgeschäftes in Hamburg: Ringelstrümpfe, Pudelmütze, brauner Rock und rote Jacke. Gleich wird sie die Ladenklinke in der Hand haben, da wendet sie den Blick noch einmal zur Seite. Sie muß mich bemerkt haben. Eigentlich möchte ich ihr nur sagen, wie gut mir ihre Arbeit gefällt.
Wie stricke ich ein Selbst? Die Antwort hing frei im Raum einer alten Industriehalle als großes lichtdurchlässiges Strickbild, mit dem Titel Proberaum Selbst. Marion und die Marionetten. Von zwei Seiten zu betrachten, spiegelbildlich, einmal positiv und einmal negativ, seitenverkehrt. 24 x Selbst ist die Strickerei aus dem Jahr 2008 betitelt. 6 x Selbst ging voraus. Diese Arbeit habe ich gesehen, bevor ich die Malerin zum ersten Mal treffen sollte. Sie war schon vor ihrem Erscheinen da.
Erst später wurde mir klar, daß Marion Anna Simon mehr als nur ein Leben in ihren Bildern hatte, zwei oder drei nebeneinander – wie ihre Namen, deren Reihenfolge ich so leicht durcheinander bringe. Aufschreiben hilft: die weiblichen gehen dem männlichen voran. Alle sind biblischen Ursprungs. Anna steht in der Mitte, vor- und rückwärts zu lesen. Die Buchstaben R und S treten nur einmal in der Reihe auf, die übrigen wiederholen sich sämtlich bis zu viermal. Ist das kein Strickmuster für die kölnische Anna Selbdritt?
Vor zehn Jahren hat sie ein extrem schmales Hochformat gemalt Selbst mit Fahrrad, 170 x 30 cm, eine spaltbreite Straßenszene. Ein berühmter Vorgänger in Berlin schnitt sich eine turbulent bemalte Leinwand auf die gleiche Höhe zurecht, ebenfalls eine Straßenszene. Im Mittelpunkt steht er selbst mit steifem Hut: der 30jährige Max Beckmann, der sich wie wenig andere in seinen Selbstbildnissen auf die ständige Suche nach dem eigentlichen Ich begab. Begegnen sich hier zufällig zwei auffällige Exemplare unter den malenden Ichforschern auf der Straße?
Klaus Gallwitz
Über das 6xSelbst von Marion Anna Simon
Die Mathematik des Imaginären
oder
Der Akt einer Dekonstruktion
von F. Ladaki
„Manchmal aber will ich im Auge dessen wohnen, der das Bild betrachtete, in dem ich bin“. (Alejandra Pizarnik aus „Tagebücher“)
„Ob ich mich in diesem Buch zum Helden meiner eignen Leidensgeschichte entwickeln werde oder ob jemand anders diese Stelle ausfüllen soll, wird sich zeigen“. (Charles Dickens aus „David Copperfield“)
„…dass die meisten Menschen im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler sind“. (Robert Musil aus „Der Mann ohne Eigenschaften“)
„Ich habe nicht einmal geschauspielert. Ich war die Rolle, die gespielt wurde. Ich war nicht der Schauspieler, ich war sein Schauspiel“. (Fernando Pessoa aus „Buch der Unruhe“)
„Wenn ich in einer Sprache denke und schreibe ‚der Hund rennt dem Hasen hinterher in den Wald’ und das in eine andere Sprache übersetzen will, muss ich sagen ‚ der weiße Holztisch drückt seine Pfoten in den Sand und stirbt fast vor Angst, dass er so (dumm) sein könnte“. (Aus Pablo Picassos „Gedichte“)
Und das Selbst gibt es doch?
„Und die Erde bewegt sich doch“ verkündete einst Galilei. Und daran ist bis heute nichts zu rütteln. Der Titel 6x Selbst von A. M. Simon scheint nichts Bescheideneres im Schilde zu führen. Wie ein Axiom oder mathematischer Lehrsatz kommt er daher, und erweckt den Eindruck, als wolle er den vielen bereits angesagten Tode des Selbst, des Gottes, des Subjekts und des Autors den Prozess machen. Mit dem Stachel der Kunst wird Revolte angekündigt. Wenn Malerei auf Algebra trifft, entsteht Malgebra, nichts minderes als ein Kofferwort. Dennoch sollen damit fundamentale Rechungen gemacht werden. In der Hand der Malgebra liegt es nun, darüber zu entscheiden, wie es um das Selbst steht. Denn es kann nicht allein in unserem launischen Ermessen liegen, über die Existenz oder Nicht-Existenz des Selbst zu entscheiden. Gewissheit soll produziert werden. Dafür muss alles an Denkkonstrukten in die Waagschale fallen, die bis jetzt nicht angedacht wurden. Die Frage, die gestellt werden sollte, ist, ob wir überhaupt existieren könnten, ohne die Vorstellung inne zu haben, Subjekte werden zu können. Denn jede Erkenntnis spricht Bände, dass es niemals auch nur eine Spur ästhetischer Reflektion geben könnte, wenn es kein selbstreferentielles Subjekt gäbe.
Ein malgebraischer Beweis
Es ist also keine mindere Aufgabe, die sich der Zyklus stellt. 6x Selbst ist alles andere, als der angekündigte Tod des Subjekts. Er scheint, als schlage er eine Gegenrichtung ein, als multipliziere und vervielfältige er das Selbst. Denn wer kann schon an der Macht der Mathematik zweifeln? Malgebraisch soll dieses
Mal die Wahrheit sein, koste es, was es wolle. Man erinnert sich an den Fundamentalsatz der Algebra: Jede algebraische Gleichung n-ten Grades besitzt höchstens n verschiedene Lösungen. Und genau so fallen einem all die anderen Lehrsätze aus Geometrie, Trigonometrie oder sogar der Mengenlehre ein. Der Satz des Pythagoras eingeschlossen, wie auch andere hilfreiche Axiome. Aber bevor man sich aufmacht, das Selbst im 6x Selbst zu fixieren und dingfest zu machen, fallen einem zwei schillernde Hindernisse auf. Erstens bleibt der Satz ohne Ergebnis. Die Multiplikation scheint für sich allein zu existieren. Sie verkündet eher, als dass sie festmacht. Sie deutet ein „schillerndes, facettenreiches Gebilde ohne klare Konturen“ an. (Feuerstein) Der zweite Hinweis wird durch die Schriftart eingeführt. Die im Titel fixierte Form ist nicht die Einzige in der Schrift. Fünf weitere konkurrieren mit ihr: 6mal Selbst, sechs x Selbst und sechsmal Selbst oder VI mal Selbst, VI x Selbst. Hier trifft Algebra auf Sprache, Mathematik auf Psychologie. Ist auch das Schillernde der Schreibweise nicht nur ein Indiz für das Schillernde im Titel, sondern auch im Selbst? War das mathematische Versprechen nur der schelmische Versuch, mittels der Kunst die Struktur eines selbstreferentiell-geschlossenen Systems installieren zu wollen, als ein Bollwerk gegen das berechtigte Misstrauen? Und sollte im Schein der Gewissheit einer malgebraischen Operation, in der Verkleidung einer Persiflage, eine Positivdefinition inauguriert werden? Denn wehe dem, der in das Lied des Todes von Gott und Subjekt in unserer Zeit nicht mit einstimmt. Die herrschende Meinung des Kunstbetriebs fordert es ein. Intellektuelle Zynismen gehören zu der Pikanterie des Zeitgeistes. Protestiert die Künstlerin gegen den angesagten Tod mit einer Multiplikation? Oder versucht sie mit der Multiplikation die Fixierung auf das Monopol der Singularität aufzulösen? Strebt sie durch die Zersplitterung des Selbst in mehreren Doubles, Agenten und Nebenbuhlern, die Allegorie einer eher lyrisch zu nennenden Subjektivität an?
Ähnliches schwebte auch Jean Baudrillard vor. Er wollte den Spiegel der Diktatur des Ichs mit der Kraft des lyrischen Zufalls zerschlagen. „… mit Verstreuung, Zerstreuung, Entmultiplikation der Identitäten und aus der individuellen Verfasstheit entrinnen, indem man mittels Würfeln (oder über „Multiple Identitäten“ im Netz) eine künstliche Diaspora des Ego organisiert“.
Nun, es ist tröstlich, dass der Titel dieses Zyklus zu einer bescheidenen Grabesrede einlädt. Nachdem das Selbst zunichte gemacht, zum Phantasma der Blinden erklärt, zu den Todgeweihten gezählt, zu den großen Illusionen degradiert und zum Schluss auf die Folie der Reproduzierbarkeit gebracht worden ist, startet das Selbst im 6x Selbst einen neuen Rachezug, um es doch noch mit all den bösen Zungen aufzunehmen. Und das nicht, weil der Künstler nicht klein beigeben will, sondern allein deswegen, weil es dem Selbst selbst unmöglich erscheint, sich selbst aufzugeben. „Es ist seltsam, wie wenig ich von dieser Welt weiß, so als wäre mein Ich Sitz dieses unnennbaren Anderen, das mit meinem Namen unterschreibt „. (A.Pizarnik)
Von der Kunst der Selbstdarstellung zur Selbstdarstellung der Kunst
Marion Anna Simon greift nach ihrer Malgebra auf das bewährte Mittel der Selbstdarstellung und des Selbstportraits zurück. Damit spielt sie auf die Sicherheit eines bewährten Genres an, das jedoch seit dem 19. Jahrhundert rückläufig geworden ist. Hegels Beschimpfungen gegen „bis zur Ekelhaftigkeit ähnlich Portraits“ klingen noch gegenwärtig. Der vordergründigen Naivität dieses Zyklus soll aber kein Glaube geschenkt werden. Spricht man nicht bereits vom Anti-, Meta- und Alloportrait? Allen Todsprechungen und Diagnosen zum Trotz wagt die Künstlerin, die Selbstinszenierung als Instrument der Kunst einzusetzen. Der Hauptaspekt wird nicht auf die „Faszination des Wiedererkennens“ gesetzt. Der Mimesis wird weder Hommage noch Eloge geschuldet. Hier dient die Selbstinszenierung, gepaart mit Sprache und Mathematik, der Einführung eines neuen Diskurses. Das Subjekt entäußert sich als Projekt der Kunst. Wie auf einer Bühne breiten sich die Künstlerin und ihre Doubles aus. Die Künstlerin schafft sich Doubles, die ihr die Bearbeitung von Subjektivität im Feld der Kommunikation ermöglichen. Das Subjektive behauptet sich als Anschauungsobjekt in einer inszenierten Realität. Dabei kommen dem Selbst mehrere Rollen zu. Die Selbstdarstellung widerspiegelt das Subjekt in seinem fragilen Wiedererkennungsaspekt, will aber darüber hinaus als „performativer Akt“ gelten. Es findet eine Entleerung des Selbst statt, die als Mittel zum Zweck zu dienen hat. Aus der Leere soll eine ‚Pluripotenz’ der Subjektivität entstehen, „ die dem Subjekt kontingente Selbstbeschreibung zur Seite stellt“. Diese ‚Pluripotenz’ steckt in dem Titel 6x Selbst. Die Zahl ist beliebig. Sie macht keine Setzung. Sie zeugt nur von der praktischen Ironie eines Schelms. Mit einem Augenzwinkern nähert sich die Künstlerin ihrer Aufgabe. Individuelle Präsenz soll als Folie für Abstraktion dienen. Mit ihrer Malgebra und der Zersplitterung des Selbst versucht die Künstlerin der Falle der Dualität zu entkommen. Dualität bedeutet Fatalität. Sie ernährt die Einfältigkeit des Schicksals. Das Fatum ist das reduzierte Gegenmodell, das fundamentale Skotom der Massen, das absolute Gewissheit verspricht. Dennoch muss das Anliegen der Künstlerin beleuchtet werden, ob es sich um eine desillusionierte Souveränität oder um die fundamentale Aporie der conditio humana nach dem ‚Wer bin ich’ geht?
Die Apparance des Nicht-Identischen
Den Begriff der Apparition führte Adorno ein, um das flüchtige Erscheinen (Epiphanie) zu bannen, das im Kunstwerk gebannt werden soll. Auch für das Thema des Selbst erscheint die epiphanische Erfahrung von zentraler Bedeutung. Epiphanie und Aphanisis durchwirken die strukturelle Essenz des Selbst. Freud hat nicht umsonst seine Souveränität in Frage gestellt. „Der Mensch ist frei, aber nicht Herr in seinem eigenen Haus“. Lacan hat das Ich dem Imaginären und auf der Seite des Anderen gestellt. Jorge Luis Borges hat von der „Nichtigkeit der Persönlichkeit“ gesprochen. „Ich will beweisen„ hat er verkündet „dass die Persönlichkeit ein Trugbild ist, verfügt von Dünkel und Gewohnheit, ohne metaphysisches Fundament oder inwendige Realität“. Greift man auf die Welt der Märchen zurück, springt einem die Figur des Rumpelstilzchens entgegen. Auch das Rumpelstilzchen verharrt so lange auf seinen Namen, bis es sich selbst zerfleischt. Auf welchen Namen, fragt man sich. Es stellt sich heraus, dass es sich um den Namen eines Zwerges handelt. In der französischen Sprache lautet sein Name ‚Ricdin-Ricdon’. Womöglich der Name eines Infanten?
Man könne ihm ideologische Größe, Konsistenz, Bleibendes und Unveränderbares zusprechen. Man könnte es mit aller nur denkbaren Güte und Reinheit ausstatten. Ein jubilatorisches Gefühl hat Lacan ihm angehängt. Narziss verliebte sich in das eigene Bild, das er für jemanden Anderen hielt. Aber was ist das Selbst wirklich? Woran erkennt man es?
Es war der dänische Philosoph Kierkegaard, der zum Widerspruch des Begriffs der Wiederholung des Identischen aufgerufen hat. Denn das, was sich wiederholt, könne niemals mit sich selbst identisch sein. Demnach kann kein anderer Begriff so sehr dem Schicksal der Epiphanie und der Aphanisis ausgesetzt sein, wie der des Selbst. Ist das Selbst nicht deswegen etwas a priori Unbegehbares? Nennt man es nicht unter anderem auch Subjekt des Unbewussten? Ist es daher nicht immer etwas unrettbar Verlorenes, Vorübergehendes, Zufälliges? Etwas, das erst im Nachhinein entsteht, wenn Kombinationen von Signifikanten die Sprache bevölkern. Ist das Selbst einmal da, ist es bar jeder Gewissheit. In seiner Apparance (Adorno) muss sich das Subjekt zur Selbstreferenz mobilisieren, damit seine Erscheinung erfahrbar wird. Es muss sich zum Objekt seiner Betrachtung machen. Verebben die Kombinationen von Signifikanten, verdurstet auch das Selbst buchstäblich. Es taucht unter und lässt sich weder reproduzieren, noch objektivieren. Die Vorstellung von einer Konstanz ist ein Irrtum. Es dient als ein phansmatischer Raum, als bloße Oberfläche, als eine Art Leinwand für die Projektion entweder der Leichtigkeit oder der Unerträglichkeit des Seins im Subjekt der Sprache. Seine Zeitlichkeit entspricht der Zeitlichkeit des Unbewussten. „Ich denke, wo ich nicht bin, und ich bin, wo ich nicht denke“ sagt Lacan. „Ich sehe das, was ich nicht sage, und ich sage das, was ich nicht sehe“, sagt Sophie Call. Nicht Descartes hat das moderne Subjekt mit seinem cogito, ergo sum entworfen. Augustinus hat es zutreffender auf den Punkt gebracht: wenn ich fehle, bin ich, hat er gesagt. Die Kunst hat dafür Sorge zu tragen, diesen Schein festzuhalten und sichtbar zu machen.
Unterschiede in den Metaphorisierungen des Selbst
6x Selbst: Ortung oder Aufhebung? Nonsens oder verborgene Sinngebung?
Nun, es ist schon wieder eine Künstlerin, die uns mit dieser Form von visuellen Metaphern des Selbst konfrontiert. Es ist müßig zu fragen, ob eine besondere Verbindung zwischen der Struktur des Selbst und der weiblichen Seele existiert. Denn jedem Geschlecht fällt das Selbst zu. Jedes Geschlecht muss sich mit diesem Rätsel reiben. Auf der Ebene der Verbildlichung aber fallen Unterschiede auf. Metaphorisierung und Bildgestaltung zeugen von unterschiedlichen Quellen. Ein großer Teil des Werkes von Käthe Kollwitz besteht aus ergreifenden Selbstbildnissen, die sie ‚Selbstbilder’ nannte. Das Gleiche trifft auf das Werk von Paula Modersohn-Becker zu. Beide Künstlerinnen verstanden ihre Selbstbildnisse als existentielle Selbstbefragung in dem Kontext der Kunst und der Welt und deuten damit eine wichtige Frage an : „Gibt es ein (systemisches) Selbst der Kunst, über das sich das psychische Selbst in seinem Selbstfinden, Selbsterfinden und Selbstbefinden beobachten und konstruieren lässt“? (Feuerstein) Da das psychische Selbst des Künstlers sich durch Bewusstsein, das der Kunst aber durch Kommunikation reproduziert, treffen sich beide an einer schizophrenen Schnittstelle. „Es benötigt immer Transfervehikel wie Symbole, Kunstwerke oder Sprache, um eine strukturelle Kopplung selbstrefentiell-geschlossener Systeme zu erzielen“ (Feuerstein T.)
Welche könnten jedoch die Unterschiede sein? Entspricht die männliche Machart eher einem acting, die weibliche hingegen einer Passage à l´ackte? Leonardo da Vinci wäre nie im Traum eingefallen, Mona Lisa als Selbstporträt ausgegeben. Und Gerhard Richter hätte seine achtundvierzig Porträts niemals „achtundvierzig x Selbst“ genannt. Und genauso wenig hätte Truman Capote seinen Kurzroman „Frühstuck bei Tiffany“ als Autobiographie tituliert. Nur Flaubert soll gesagt haben: “Madame Bovary, c´est moi“. Der männliche Genius scheint zu wissen, wie er sich auf die sichere Seite bringt. Seit Urzeiten bedient er sich kulturbeladener und geschichtsträchtiger Metaphorisierungen, um seine Symbolisierungsmodalitäten zu konfigurieren. Seine Metaphern leben von der Anonymisierung und von den symbolischen Marken. Das Männliche achtete sehr darauf, sich selbst so wenig wie möglich zu verlieren. Eher verschreibt er sich vorgegebenen Offenbarungen, prophetischen Zeremonien, Mysterien-Orgien, alchemistischen Unterweisungen oder religiös anmutenden Erweckungserlebnissen, als sich solchen prekären Praktiken auszusetzen. Das Weibliche hingegen scheint sich anders zu entwerfen. Auf der Matrix des Künstlerbetriebes erweckte es lange den Eindruck, als könne es nicht sublimieren. In der Tat sublimiert es, aber anders. Dabei scheut es sich vor keiner Selbst- und Verausgabe. Es wird „zur Gänze aufgebraucht“. Das Weibliche stellt sich dem Realen aus, um mittels des Symbolischen dem Imaginären aufzusitzen. Es weidet sich an der diskursiven Sichtbarkeit der Kunst, um in dem eigenen Unsichtbaren das Unsichtbare der Welt zum Leuchten zu bringen. Es wird Gestalt und Hintergrund, Ausgesagtes und Aussage. Der weibliche Genius hängt wie ein Flughund am Realen, auch am Realen des eigenen Körpers. Daher ist ihm das Prekäre der Verausgabe in der Selbstinszenierung nicht fremd. Sechs x Selbst ist unter anderem eine Formel des weiblichen Diskurses auf der Folie des Imaginären der männlichen Vorherrschaft. Dies belegen außer den Genannten noch viele andere Künstlerinnen wie Sophie Call, Cindy Sherman, Marion Strunk, Isa Genzken. „Zur Gänze aufgebraucht“ im Dienste der Kunst? Von der Selbstdarstellung zur Selbstaufopferung?
Literatur
Adorno, T.W. : „Ästhetische Theorie, Schriften 7“, Suhrkamp, 1973
Baudrillard, Jean. :“Das Andere selbst“, Passagen, 1994
Borges, Jorge Luis. “Die Nichtigkeit der Persönlichkeit. Eine neue Widerlegung der Zeit und 66 andere Essays, Suhrkamp, 2003
Feuerstein, Thomas: „Me, Myself & I: Das Selbst als Server“, in : Kunstforum Bd. 181
Freud, Sigmund: „ Schriften aus dem Nachlass 1892-1939“, Gesammelte Werke B. XVII, S. Fischer, 1966
Lacan, Jacques: „Das Seminar Buch XI“, Quadriga, 1999
Pizarnik, Alejandra: „In einem Anfang war die Liebe Gewalt“, Tagebücher, Amman, 2007