Falscher Friedrich (Hosenrolle)
Dr. Dietmar Schuth
Kunstverein Worms
Der Kunstverein Worms dankt den Nibelungen-Festspielen Worms, namentlich Frau Petra Simon, die uns die Anregung für diese Ausstellung gab. Der staufische Kaiser Friedrich II. steht im Mittelpunkt der diesjährigen Festspiele 2010, so dass wir uns freuen, mit Marion Anna Simon eine Künstlerin gefunden zu haben, die sich auf dieses Thema eingelassen hat.
Friedrich II. gilt zwar als ein erster moderner Mensch und besitzt dank vieler Anekdoten aus seinem schillernden Lebens fast den Rang eines Pop-Stars, doch ist eine Beschäftigung mit dieser historischen Figur im 21. Jahrhundert eher ungewöhnlich und selten. Um so größer ist der Dank an die Kölner Künstlerin, die es unternommen hat, ein keineswegs zeitnahes Zeitalter mit zeitgenössischer Kunst zu beleben.
Wo nun könnte eine Beziehung zwischen Simon heute und Friedrich vorvorgestern zu suchen sein? Schaut man in die Geschichte, erscheinen immer wieder die Namen der Städte Köln und Worms, so dass hier vielleicht ein interessanter Anknüpfungspunkt erscheinen könnte. Doch liest man genauer, erfährt man, dass Friedrich mit beiden Städten viele eher schwierige Beziehungen gehabt haben muss. Sowohl die Kölner als auch die Wormser Bischöfe waren nicht unbedingt immer seine Freunde. Schon zu Beginn seiner Königskarriere weigerten sich die deutschen Fürsten auf dem Wormser Hoftag von 1195 das "Kind von Pülle" zum deutschen König zu wählen. 1235 musste er in Worms gegen seinen eigenen machtgierigen Sohn Heinrich Gericht halten und im gleichen Jahr seine vierte Ehe mit Isabella von England feiern.
Doch all das bringt uns diesem Ausstellungsprojekt nicht näher - eine andere historische Figur jedoch umso mehr: Tile Kolup bzw. Dietrich Holzschuh, der im Jahre 1284 in Köln auftauchte und behauptete, er sei der (eigentlich schon 1250 verstorbene) Rex Fridericus. Dabei nutzte dieser Falsche Friedrich, den Volksglauben, die als Sage später auf Friedrich Barbarossa bezogen wurde: Friedrich II. sei gar nicht tot, sondern schlafe nur (in einer Höhle im Kyffhäuser). Die Kölner aber ließen sich nicht betrügen, das spottende Volk tauchte ihn in eine Kloake und verjagte ihn aus der Stadt. In Neuss jedoch glaubt man ihm. Hier hielt er sogar Hof, stellte Urkunden aus spielte so fast ein ganzes Jahr lang den König. 1285 zog er dann mit einem etwas zwielichtigen Hofstaat nach Wetzlar, wo ihn die Chronik der Stadt feinsinnig charakterisiert als einen "würdigen alten Mann in vornehmem Gewand, ein wenig müde vom langen Ritt, in sich gekehrt und karg mit Worten, aber in den Augen etwas, als träumte er einen schönen Traum." (Wikipedia) Dieser Traum zerplatzte alsbald, der rechtmäßige König Rudolf von Habsburg wurde seiner habhaft und ließ ihn in Wetzlar als Ketzer verbrennen.
Solche falschen Friedriche gab es mehrere, und Marion Anna Simon gehört als eine neuzeitliche falsche Friederike in diese Tradition. Ihre Hochstapelei ist jedoch keine politische, sondern eine künstlerische, die niemand mit einer öffentlichen Hinrichtung ahnden würde, höchstens als eine respektlose Frechheit beanstanden oder als Verrücktheit belächeln würde. Sie selbst nennt ihre Methode, sich der historischen Figur des Friedrich zu nähern, eine „inszenatorisch performative Travestie“.
Nun, eine Travestie ist eine Verkleidung, die bekanntlich auf das antike griechische Theater zurückgeht, als die Frauenrollen von verkleideten Männern gespielt wurden. Heute denkt man bei dem Begriff eher an Männer, die sich in glitzernden Frauenkostümen auf Revue-Bühnen gefallen. Umgekehrt kennt das Theater, namentlich die Oper, die Hosenrollen, d.s. männliche Figuren, ursprünglich einmal für Kastraten geschrieben, die heute mit Sängerinnen besetzt werden. Neuere Komponisten schufen gleich solche Hosenrollen wie etwa Richard Strauß den Octavian als Mezzosopran im "Rosenkavalier".
Die Bühne der Marion Anna Simon ist jedoch nicht das Theater, sondern die Bildende Kunst, die sie in unserer Ausstellung "performatorisch inszeniert". Das heißt, die Künstlerin sucht und findet in ihrem eigenen bildkünstlerischen Fundus ältere Arbeiten, die sie in einer Ausstellung und dem hier vorliegenden Katalog unter einen neuen Zusammenhang stellt und mit neuen, lyrischen Bildlegenden untertitelt. Dabei handelt es sich um Zeichnungen, Gemälde, Textilarbeiten, Glasobjekte und Videoarbeiten aus fast 20 Jahren Produktion. Einige dieser Werke stammen noch aus Studienzeiten in Hamburg, andere aus ihrer Eifel-Heimat, manche aus Paris, Venedig und New York. Viele entstanden während diverser Stipendien in Dänemark, Spanien, Island, der Schweiz oder zuletzt in Edenkoben in der Pfalz.
Hier in der Pfalz besuchte Marion Anna Simon u.a. die alte Stauferburg Trifels, wo sie womöglich ihre letzte konkrete Begegnung mit unserem Kaiser Friedrich hatte, noch bevor die Ausstellung mit dem Kunstverein Worms verabredet wurde. "Wer den Trifels hat, hat die Kunst" soll sie damals in einer wohl romantischen Regung ausgesprochen haben, ein Diktum, das sie nun in "Wer Friedrich hat, hat die Kunst" transformierte. Dieser Ausstellungstitel bedeutet ganz einfach, dass die Kunst da und dort stattfindet, wo man sich mit jenem Kaiser beschäftigt. Und umgekehrt, wer die Kunst hat, hat den Friedrich, der heute 760 Jahre nach seinem Tod aus seinem Schlaf erwacht und wieder imaginär lebendig wird.
Dieses Wake-up gelingt durch eine Methode, die letztlich schon jener Tile Kolup praktizierte. So wie er eine andere Identität annahm, schlüpft auch Marion Anna Simon in eine solche Verkleidung und deklariert zum Beispiel ihre zahlreichen Selbstporträts einfach - dreist und frech - als Porträts des alten Kaisers. Niemand weiß, wie er der echte Friedrich tatsächlich ausgesehen hat, doch trug er sicherlich keine Frauenkleider, gleichwohl die Kleidermode im 13. Jahrhundert noch relativ unisex ausfiel.
Weniger provokant sind die Hochstapeleien, bei denen Marion Anna Simon ihre Selbstporträts als Bildnisse der historischen Frauenfiguren im Umkreise des staufischen Kaisers deklariert: seine Mutter Konstanze von Sizilien, seine erste Ehefrau Konstanze von Aragon, seine zweite Ehefrau Isabella Jolante von Jerusalem, seine dritte Ehefrau Bianca Lancia, seine vierte (in Worms geehelichte) Frau Isabella von England. Dazu kommen Gertrud von Österreich, die den Kaiser nicht ehelichen wollte, so wie der missratene Sohn Heinrich, gegen den Friedrich in Worms prozessierte, den die Künstlerin posthum in ein eigenes Kinderbildnis auf der Schaukel montiert. In zwei Bildern erscheint der Freund der Künstlerin als Porträt und muss mitgehangen mitgefangen in friederizianische Identitäten schlüpfen, in einem Hochzeitsbild mit Isabella von England posieren oder in einem Kaffeehaus die Einführung der Null in die Mathematik mit einem Stück Kuchen feierlich begehen.
Neben dieser vielfältigen Travestie mit wildem Geschlechtertausch verwirkt und verwickelt Marion Anna Simon die historische Biografie des Kaisers mit der eigenen. Bilder, die ihr eigenes Leben dokumentieren, werden kraft ihrer kühnen Phantasie um 800 Jahre verrückt: Irgendein Hochhaus in Rheinland-Pfalz wird so unversehens in das berühmte Castell del Monte verwandelt, die eigene Reise in die Schweiz bebildert nun die Reisen des Kaisers in seinem von den Alpen durchtrennten Heiligen Römischen Reich. Glasobjekte der Künstlerin verwandeln sich in die Reichskleinodien, eine Zeichnung der Kathedrale von Amiens deutet das schwierige Verhältnis des Kaisers zum Papst an.
Auch mit den Anekdoten um Friedrich hat sich Marion Anna Simon beschäftigt, die heute meist als Kolportage seiner Widersacher gewertet werden, wie etwa die Experimente des Kaisers mit Kindern, denen er die menschliche Ursprache entlocken wollte. In anderen Bildern greift Simon eine boshafte Legende auf, Friedrich sei gar kein legitimer Staufer, sondern das Kind eines Metzgers, wie auch die Legenden um seinen unsittlichen Umgang in "irdischer Lust und heidnischer Lebensart". Doch Marion Anna Simon schlägt sich eher auf die Seite der Anhänger des Kaisers, diskreditiert ihn nicht, sondern lobt seine positive Rolle gegenüber den Juden und den Moslems, die er 1228 als einziger mit einem friedlichen Kreuzzuge ins Heilige Land beehrte.
"Die Kunst hat über die Welt gesiegt", schreibt Marion Anna Simon unter das jüngste, geradeso noch vor Drucklegung vollendete Gemälde. Die Phantasie hat über die verstaubte Historie gesiegt und eine Geschichte mit all ihren Geschichtchen neu erzählt. Die Künstlerin selbst ist dabei etwas egozentrisch so doch sehr erfrischend in die Rolle ihres Protagonisten geschlüpft. Sie wird selbst zum Kind von Pülle, zur Prinzessin Friederike, und hat sich in jenem neuen Bild - so wie einst Friedrich in Jerusalem - selbst die Krone aufs Haupt gesetzt, die freilich ein wenig an eine Narrenkappe erinnert.
Die souveräne Hybris
oder
Vom Spinnen und Dichten
Über Marion Anna Simons: „Wer den Friedrich hat, hat die Kunst“.
Von Fotini Ladaki
Eine souveräne Imitatio spricht Marthe Robert dem Don Quichote beziehungsweise seinem Autor Cervantes zu. Cervantes hat sich mit seinem Helden aufgemacht, um den verstaubten Ritterroman episch wieder zu beleben. Er wollte die Figur des Ritters in einem gewöhnlichen Mitmenschen neu erschaffen, der in die geschichtliche Wirklichkeit Einzug halten sollte.
Bei dem Zyklus von Marion Anna Simon „Wer den Friedrich hat, hat die Kunst“ eilen einem ähnliche Einfälle entgegen. Ebbt die erste Überraschung ab, gleitet sie schon auf andere Begriffe über wie: frech, subversiv, camouflierend, satirisierend, persiflierend, juvenil, naiv. Kann man die erhabene Geschichte, dieses so vollendet und edel komponierte Geflecht von Niederschriften, Erfahrungen, Kolportagen, Archiven, Aufzeichnungen von Heeresführern und Kriegshelden, Berichten von päpstlichen Kurieren, ausländischen Legaten, Apotheosen und Denkmälern persiflieren und zum Gegenstand einer komödiantischen Kunsttravestie machen?
Die Moderne und die Postmoderne haben uns bereits mit allerlei Spektakeln, Spielen, Performances, Tricks, Perspektivenwechseln, Verdrehungen und Dekonstruktionen konfrontiert. Velazquez ließ bei seinen „Las Meninas“ durch eine Perspektivendrehung das Herrscherpaar aus der Oberfläche der sichtbaren Macht verschwinden und stellte sich selbst als den eigentlich souveränen Schöpfer in den Mittelpunkt des Bildes. Später wanderten Pissoirs und andere gewöhnliche Objekte, aus ihrem Kontext herausgerissen, in die Museen. Mona Lisa bekam einen Bart, während Magritte die Verbindung zwischen Signifikant und Signifikat aufhob. Er titulierte ein Bild mit einer Pfeife, dass es keine Pfeife zu sein hatte.
Es ist ein Fakt, dass die bildende Kunst in ihrer Radikalität, der neuen Wirklichkeit ein Gesicht zu verleihen, alle anderen Künste übertroffen hat. Der neue Wirklichkeitsbegriff kündigte die Ordnung der alten Vertrautheit mit der Welt auf. Die Ideen von Staat, Gott, Adel, Pathos, Heldentum und Vorsehung verloren ihre Macht. In dem neuen Diskurs von Wirklichkeit wurde dem Ding Erhabenheit und Universalität zugesprochen. Man band es in philosophische und psychologische Diskurse ein. Der Gegen-Stand wurde zum dialektisierenden und metaphorisierenden Topos für den Menschen in der Welt.
Nun? Konnte man sich deswegen getrost zurücklehnen und behaupten, dass es nichts Neues im Alten mehr gäbe?
Dass Marion Anna Simon zwischen ihren Bildern und der Geschichte
Friedrich II. von Hohenstaufen Fäden spinnt, muss man buchstäblich verstehen. Sie spinnt und webt poetisch anmutende Spruch-Bänder. Die Narrativität ihrer Sätze soll zusammenbinden, was nicht zusammengehört. Geschichte und bildnerisches Werk sollen der Identifizierung mit sich entsagen. Die Affirmation einer dekonstruktiven Lektüre nach Derrida drängt sich auf. Derrida weist in seiner Dekonstruktionstheorie auf diese Immanenz der Struktur des Textes als Zeichen hin. Dabei spricht er der Idee der „Transgression“ einen besonderen Wert zu.
Auch die Performance „Wer den Friedrich hat, hat die Kunst“ stellt die Sicherheit unseres Wissens und die Praxis der Rezeption auf die Probe. Handelt es sich um einen Akt der Mesalliance? Oder geht es um ein possenhaft-listiges Spiel? Woher bezieht ein Text seine Legitimation, sich als hoher Priester zu gebärden, um eine unmögliche Vermählung zu zelebrieren?
Der Begriff ‚Spinnen’ lässt uns aufhorchen. Erstens lässt sich der Begriff in die Reihe der alten weiblichen Tätigkeiten eingliedern, zu denen auch das Weben und Sticken gehört. Diese Handwerke sind eng mit der Herstellung von Stoffen und Textilien verbunden. Sowohl im Orient wie auch im Neuen und Alten Testament wird die Weltschöpfung mit der Metapher des Kleides bzw. Schleiers, des Gewebes oder Zelltuches umschrieben. Die Ethnologin Heide Nixdorff weist nach, dass „diverse Ethnien die Parallelität zwischen Textilherstellung, Leibbildung (Gewebe) und Denken (Faden) in ihrer Mythologie und Dichtung thematisiert haben“. Das Auftauchen dieser Hand-Werke aktiviert eine Kodierung, die in der Tradition den Fortschritt mit Männlichkeit gleichsetzte, während das Spinnen und Weben dem Altmodischen und Weiblichen zugeordnet wurde. Um die alte Zuordnung aufzubrechen, ziehen wir die Psycholinguistik und die poststrukturale Psychoanalyse heran. Durch diese Diskurse treten die Worte stichfest, stichhaltig, fadenscheinig und der rote Faden in den Vordergrund. Alle diese Begriffe entstammen den oben angeführten Hand-Werken. Man spinnt den Faden der Erinnerung, wie auch den der Erzählung. Von den Stoffen gelangt man zur Textilie, zum Text und zur Textur. Über die Textilie sagt Jacques Lacan in seinem Ethikseminar: „Die Textilie ist zuerst ein Text. Am Anfang ist die produktive Erfindung, nämlich die Tatsache, dass der Mensch - und warum nur er? - sich dranmacht, irgendetwas zu flechten, irgend etwas, das nicht im Verhältnis des Einhüllens, der Verpuppung zu seinem eigenen Körper steht, sondern sich unabhängig davon in die Welt aufmacht als Stoff, der zirkulieren wird“. Will man in diese Richtung weiter vordringen, erinnert man sich auch an die Worte des Messias an den Menschen: “Sie weben und spinnen nicht, sie bieten den Menschen die Nachahmung des Kleides der Lilien und des Federkleids der Vögel“. Das Charakteristische an diesem Satz, scheint nicht so sehr die Vernichtung des Textes durch das Wort zu sein. Viel mehr präsentiert es sich uns so, als wäre die Geschichte des Menschlichen im Text verankert. Und im Text wird der Stoff konkretisiert.
Textilien und Stoffe gehören noch zu den hergestellten Gütern. Die Bedeutung der Güter liegt im Nützlichen. Das Nützliche befriedigt die Bedürfnisse des Menschen. Es gibt nach Paulus die geistlichen Güter und die irdischen Güter. Die Güter sind der Plural von Gut. Und die Güter sind auch Ware. Zu den Waren gesellt sich auch der Begriff des Wahren zu. Ist deswegen jedes Gut wahr und gut?
Vom Guten und Schönen kann man nicht genug sprechen. Das erste hergestellte Kleid ist als Gut zu bezeichnen. Durch dieses zog der Mensch seinen Kopf und seine Arme hindurch, trennte sich damit von den animalischen Verwandten und reihte sich in die symbolische Ordnung der Kultur ein. Auch Platon redet in seinem Symposion davon. Dafür lässt er Diotima und Sokrates auftreten: „Aber, sprach sie, wenn nun jemand tauschend statt des Schönen das Gute begehrt, was begehrt der? - Dass es ihm zuteil wird, sagte ich. - Und was geschieht jenem, dem das Gute zuteil wird? - Das kann ich schon leichter beantworten, sagte ich, er wird glückselig. Denn durch den Besitz des Guten, fügte sie hinzu, sind die Glückseligen glückselig“. Genau so weise verfährt Diotima, als sie den Begriff der Dichtung in ihre Rede einflicht. „Denn was nun für irgendetwas Ursache wird, aus dem Nichtsein in das Sein zu treten, ist insgesamt Dichtung. Daher liegt auch bei den Hervorbringungen aller Künste Dichtung zugrunde“.
Gehören nun das Spinnen und Dichten ebenfalls zusammen?
Ziehen wir die Alltagsrhetorik heran, drängt sich noch ein anderes Wort auf. Und das wiederum hat weder mit Stoffen, noch mit hergestellten Gütern zu tun. Mit Männern und Frauen hat es ursprünglich auch nichts im Sinn, denn beide Geschlechter partizipieren gleich an diesem Ding. Es ist allein auf der Ebene der Sprache situiert. Es bezeichnet einen Zustand, in dem das Subjekt der Sprache durch Dichtung und Verdichtung neue Zuordnungen von Ideen vornimmt. Die Dinge rücken einfach von der alten Ordnung ab. Sie werden ver-rückt. Es kommt zu Verrückungen aller Art. Man ‚spinnt’ fortwährend und ungehemmt. Wer aber am besten spinnt, wird keine Spinne. Das findet nur in der Mythologie statt. Als sich Athene von dem Ruhm der besten Weberin herausgefordert fühlte, startete sie einen Wettbewerb. Die Weberin trug mit ihrer Arbeit den Sieg davon. Athene war dermaßen gekränkt, dass sie nur auf Rache sann. In ihrer göttlichen Grausamkeit verwandelte sie die Weberin in eine Spinne.
Wenn man die Wörter Dichtung und Spinnen zusammenbringt und mit beiden eine Operation anstellen will, was mag wohl aus deren Addition herausspringen? Sicherlich würden viele Homunculi daraus entspringen. Einige der prominentesten unter diesen mögen Don Quichote, Kafkas Herr K., das Bild „Las Meninas“ sein. Bei diesen drei Kreationen geht es um die Erfahrung von Souveränität des schöpferischen Geistes. Egal in welche Gestalt sich der Schöpfer kleidet: es geht darum, sich zu behaupten. Don Quichote ist ein satirischer Held. Er identifiziert sich mit einem Buch. Er mag deswegen verrückt sein, weil er die buchstäbliche Anwendung der guten Grundsätze und der schönen Ideen in einem ungebührlichen Maß propagiert. Dabei weiß jedermann, dass sie nicht die geringste praktische Bewährung vertragen. Auch Kafkas Herr K. ist ein einsamer und melancholischer Ritter. Er propagiert weder das Pathos noch den Kampf. In seiner negativen Theologie enthüllt er in beiden den heimlichen Kleinkrieg des Alltags und des sozialen Lebens. Der wird mit List und großem Aufwand an Spitzfindigkeit durchgeführt. Das Gesetz wird als das Instrument der Weltmacht entlarvt. In „Las Meninas“ ist es Velasquez, der sich vom Knecht, (der beauftragte des Königshauses) zum eigentlichen Herrn des schöpferischen Aktes der Kunst erhebt.
Und was spinnt sich Marion Anna Simon zusammen? Auch sie erhebt sich zur souveränen Herrschaft der Kunst empor. Sie kündigt die Macht des patriarchalisch-männlichen Denkens über die Erhabenheit der schriftlichen Archive, verbindet mit dichterischen Golemsprüchen, was nicht nietfest ist und nicht zusammengehört, spielt augenzwinkernd mit Macht und Ohnmacht, karikiert, opponiert und sabotiert. Sie unterwandert die Alleinherrschaft des Phallo- und Logozentrismus. Durch verdichtete Rhythmen bringt die Künstlerin die Geschichte in die Gemächer ihrer eigenen Kunst. Die Geschichte wird aus ihrer verstaubten und mortifizierten Gruft herausgebracht. Mal wandert der König auf den Schoß der Künstlerin. Sie wird zu seiner Mutter. Anschließend wird sie mit ihm vermählt. Sie nimmt die Gestalt der Konkubine, der Mätresse, der Hure und der Jüdin mit dem blauen Gürtel an. Dann wird sie selbst zum 6 x König, um von da aus 6 x Geliebte des Königs zu sein. Der König darf seinen Asketenkuchen mit Sahne genießen. Gelegentlich isst er auch Sojawurst in Vogelsang. Die Wurst ist seine Macht. Die Falken liebt er mehr als die Menschen. Seine Menschenexperimente machen ihn zum Friedenskönig. In der Gestalt der abgemagerten Pina Bausch tanzt die Künstlerin, weil der Papst sich gegen die irdische Lust und die heidnische Lebensart ausgesprochen hat. Die Falken auf dem Markusplatz schreien lauthals: „Wer den Friedrich hat, hat die Kunst“. Und zum Schlussakt kommt es zu dem Ruf, um den es geht: Die Kunst hat über die Welt gesiegt.
Dieses Mal wird der Satz nicht von einem Mann, sondern von einer Frau gesprochen. Darin besteht sein Triumph. Er schafft eine Balance, in der man einen Teil der weiblichen Ingeniosität vermuten darf: einerseits die eschatologische Macht der Häresie und andererseits den gewitzten, aber genialen Schelm. Die Künstlerin schaffte nach Lacan ein Sinthom, in dem die Register des Realen, des Imaginären und des Symbolischen neu verknüpft werden. Dem Sinthom gesellen sich andere homophone Begriffe zu, wie der heilige Thomas und auch synth-homme (der künstliche Mensch) und saint homme (der heilige Mensch). Das von Anna Marion Simon vorgeführte Szenarium von Aufhebung der Differenzen scheint noch eine andere Dimension (dit mensonge= lügen, täuschen, spinnen) zu beinhalten. Es wird gezeigt, dass auch die Geschichte des Subjekts nicht linear verläuft. Das Subjekt selbst zerfällt in verschiedene imaginäre Bilder und Spiegelungen. Das Subjekt ist nicht der Herr der Bilder, sondern ist aus Bildern zusammengeleimt. Die nächtliche Traumproduktion stellt es unter Beweis. „Das Ich gleicht verschiedenen übereinander gezogenen Mänteln, die dem entliehen sind, was ich den Plunder seines Zubehörladens nennen würde“ (Lacan)
Und alles das zum Wohle der Kunst?
Literatur
Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz, 1972, Suhrkamp Taschenbuch, Wissenschaft
Lacan, Jacques: Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar Buch VII, 1996, Quadriga Verlag, 1996
Platon: Sämtliche Werke Band 2. Symposion, 1994, rowohlts enzyklopädie
Robert Marthe: Das Alte im Neuen. Von Don Quichote zu Franz Kafka, 1968, Fischer Wissenschaft
Nixdorff, Heide: Das Textile Medium as Phänomen der Grenze - Begrenzung- Entgrenzung. 1999, Dietrich Reimer Verlag